Lüdenscheid. (AWe) Am 2. Dezember ist die Autobahnbrücke der A45 bei Lüdenscheid seit einem Jahr gesperrt. Vor Ort herrschen auch nach 365 Tagen immer... (ST)AUSFAHRT nach Lüdenscheid: Schicksale und Forderungen

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Lüdenscheid. (AWe) Am 2. Dezember ist die Autobahnbrücke der A45 bei Lüdenscheid seit einem Jahr gesperrt.

Vor Ort herrschen auch nach 365 Tagen immer noch unhaltbare Zustände: ein Verkehrschaos, das die gesamte Wirtschaftsregion und ihre deutschland-weiten Vernetzungen betrifft. Um zum Jahrestag ein Zeichen zu setzen, haben Vertreter der regionalen Wirtschaft und der Gewerkschaft einen Reisebus gechartert und sich gemeinsam mit Medienvertretern in den morgendlichen Stau begeben. Fahrzeit des gut gefüllten und mit dem Motto des Tages beschrifteten Busses: mehr als zwei Stunden.

Mit an Bord: Betroffene aus Industrie, Handwerk, Handel und Gastronomie, der Vorsitzende der Märkischen Gesundheitsholding sowie ein Auszubildender. Sie beschrieben im Bus die Folgen des alltäglichen Stau-Chaos‘, bezifferten gravierende Umsatzeinbußen durch die Brückensperrung und befürchten einen Niedergang des gesamten Wirtschaftsstandortes.

Wie betroffen die Region ist, zeigen auch Zahlen des Beratungsunternehmens IW Consult. 5.740 Lkw und 11.500 Pkw quälen sich an Wochentagen durch Lüdenscheid. Im ersten Jahr hat die Brückensperrung bereits 360 Millionen Euro volkswirtschaftliche Kosten ausgelöst, außerdem 123 Millionen Euro Wertschöpfungverluste im Märkischen Kreis. Pendler haben bei der Fahrt nach oder durch Lüdenscheid fast 40.000 Tage Lebenszeit verloren. Angesichts dessen wird klar: So kann die Lage nicht bleiben! Hier zählt längst jeder Tag.

Die Teilnehmer und Organisatoren der (ST)AUSFAHRT haben genau darauf hingewiesen. Sie fordern eine möglichst schnelle Realisierung der neuen Rahmedetalbrücke sowie mehr Transparenz und Kommunikation im Laufe des Projektes. Kurz: Es brauche endlich einen verbindlichen Zeitplan. Die Region erwarte nun außerdem eine bevorzugte Förderung durch Land oder Bund. Eine Bevorzugung wird auch bei der Mittelverteilung für Straßenneubau und -unterhalt angemahnt. Erforderlich sei ferner ein lnfrastrukturbeauftragter für Südwestfalen mit weitreichenden Vollmachten und Durchgriffsrechten gegenüber den zuständigen Stellen (siehe auch S. 4).

Veranstalter der (ST)AUSFAHRT waren:
Arbeitgeberverband Lüdenscheid
Deutscher Gewerkschaftsbund
Kreishandwerkerschaft Märkischer Kreis
Märkischer Arbeitgeberverband
Südwestfälische Industrie- und Handelskammer
Klartext im Bus:
Aussagen von Betroffenen

Dr. Frank Hoffmeister (62), Geschäftsführender Gesellschafter der Betzer GmbH & Co. KG: „Der Fachkräftemangel belastet die Unternehmen massiv. Die Sperrung der A45 verschärft das Problem in Lüdenscheid und ganz Südwestfalen, indem die Region als Wirtschaftsstandort und Wohnort an Attraktivität verliert. Die Herausforderungen werden immer größer, um Beschäftigte zu halten und neue zu gewinnen. Meine aktuelle Forderung an Politik und Planer: Schnellstmöglicher Neubau der Rahmedetalbrücke – jeder Tag zählt!“

Marc Krombach (48), Geschäftsführer der NBTK Ulbrich GmbH Co.: „Wir befürchten eine Abwanderung der Mitarbeiter in den Unternehmen und des produzierenden Gewerbes. Durch erhöhten Verschleiß wird es zu weiteren Straßensperrungen auf den Umleitungen B54, B55 und B236 kommen. Der Bevölkerung und der Industrie muss endlich ein verlässlicher Zeitplan vorgestellt werden. Wir benötigen eine Perspektive.“

Jan Thomas Wieghardt (46), Geschäftsführer des Malerbetriebs Wieghardt & Sohn GmbH: „Seit der Brückensperrung haben sich die Fahrzeiten der Mitarbeiter zur Arbeit aber auch die Wegezeiten zu den Baustellen faktisch verdoppelt. Dies führt zu einer immensen Frustration der Mitarbeiter, aber auch zu einer enormen Kostensteigerung durch unproduktive Zeiten. Zusammen mit dem Mehrverbrauch und den gestiegenen Benzinkosten ist das nicht kompensierbar. Weiterhin funktionieren Lieferketten nicht mehr, da die Lieferanten Lüdenscheid meiden oder Aufschläge berechnen. Die Politiker in Berlin sollten unsere regionale Misere ernst nehmen. Hilfreich sind: Bürokratieabbau, eine Vereinfachung des Genehmigungsprozesses, ein Wegfall des Planfeststellungsverfahrens, Einschränkung von Klagemöglichkeiten von nicht direkt Betroffenen sowie verlässliche Termine. Die Stadt muss durch Umleitungskonzepte oder Durchsetzung von Durchfahrverboten entlastet werden.“

Dr. Thorsten Kehe (57), Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Märkische Gesundheitsholding GmbH: „Arbeitswege von drei Stunden sind inzwischen keine Seltenheit. Die Märkischen Kliniken haben rund 2.400 Beschäftigte. Wir verzeichnen 20 Prozent mehr Fluktuation, bei der auch die Belastungen der Brückensperrung als Kündigungsgrund angegeben wurden. Tendenz weiter steigend. Leidtragende sind unsere Patienten, welche die Folgen von Personalengpässen zu spüren bekommen. Wir sind ein Krankenhaus der höchsten Versorgungsstufe und zuständig für mehr als 400.000 Einwohner im Märkischen Kreises. Ein Klinikum kann man nicht an einen anderen Ort verlagern, und das Problem ist gelöst. Der Brückenausfall selbst, aber auch bauliche Verzögerungen und unklare Planungsfragen entwickeln sich zum unkalkulierbaren Risiko für die Patientenversorgung. Die Planer der Morandi-Brücke in Genua haben uns gezeigt, dass es möglich ist, ein Brücken-Neubauprojekt in zwei Jahren zu bewerkstelligen. Daran werden sich Politik und Behörden messen lassen müssen. Wir brauchen jetzt umfassendere Informationen und mehr Transparenz, was die Bauzeit und den zeitlichen Rahmen betrifft. Nur so können wir planen.“

Caroline Vedder (57), Chefin des Café-Restaurants Vedder Herscheid Nieder-Holte (inkl. Vermietung von Ferienwohnungen): „Wir verzeichnen Umsatzeinbußen von 25 Prozent sowie eine Abwanderung der Gäste aus dem Norden und befürchten ein langsames Ausbluten der Region. Selbst Lüdenscheider fahren zum Teil nicht durch das Verkehrschaos in die südliche Richtung. Es muss einen schnellstmöglichen Abriss und Neubau der Brücke geben, auf der Baustelle muss 24 Stunden täglich sieben Tage die Woche gearbeitet werden. Das Brückenthema muss im Bundesverkehrsministerium zur Chefsache gemacht werden. Jeden Montag sollte das bisher Geleistete öffentlich dokumentiert werden.“

Björn Jäger (46), Geschäftsführer des Bekleidungsgeschäftes STRODEL & JÄGER: „Wegen unseres speziellen Angebotes sind wir auch auf Kunden außerhalb von Lüdenscheid angewiesen. Viele Kunden werden wegen der Verkehrssituation aber nicht mehr hierher kommen. Schon jetzt haben wir Probleme mit der Anlieferung so genannter Hängeware, da Lüdenscheid einfach seltener angefahren wird. Mittelfristig wird es messbare Folgen für den Standort geben. Ich befürchte eine drastische Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch Abwanderung qualifizierter und kaufkräftiger Bürger und eine Abwanderung von Unternehmen – das wird ein Teufelskreis. Daher fordere ich natürlich eine schnellen Ausbau der Infrastruktur.“

Gert vom Schemm (51), Technischer Leiter der PHÄNOMENTA Lüdenscheid: „Wir verzeichnen einen Rückgang von 35 Prozent bei den Schulklassen, die uns besuchen. Ich fürchte einen Niedergang des Wirtschaftsstandorts Lüdenscheid und Umgebung. Politik und Planer sollten die Stadt Lüdenscheid nicht vergessen, finanzielle Unterstützung prüfen und ein positives Bild der Stadt zeichnen.“
Vera Anschütz (33), Museumspädagogin PHÄNOMENTA Lüdenscheid: „Das Verkehrschaos könnte ein langjähriges Thema werden, sodass ich mir dann einen anderen Job suchen müsste. Wir brauchen schnelle Ergebnisse für Pendler. Anderthalb Jahre kein Zugverkehr zwischen Hagen und Lüdenscheid, Schienenersatzverkehr und A45-Sperrung sind unzumutbar und eine Belastung für die menschliche Seele, den Körper und die Umwelt.“

Jan Haverkamp (24), Auszubildender bei der Leopold Kostal GmbH: „Ich bin noch für einige Monate in der Ausbildung zum Elektrotechniker, gleichzeitig aber auch dualer Student an der Fachhochschule in Hagen. Wegen der aktuellen Situation bin ich vor einem Jahr nach Lüdenscheid gezogen, vorher wohnte ich im Kreis Unna. Ich befürchte erhöhte Fahrtkosten. Der Dauerstau schränkt das Leben ein und schreibt den Rhythmus vor. Man muss sich nach dem Stau ausrichten. Aber egal, wie clever man plant, man hat jeden Tag einen größeren Zeitaufwand, den man einfach nicht ändern kann. Das wirkt sich auch auf die Freizeit aus. Viele Freunde und meine Familie sind im Raum Fröndenberg. Ich fürchte, dass ich sie in den kommenden Jahren viel weniger treffen werde als früher. Die Stadt Lüdenscheid macht ihren Job gut, die Leute vor Ort tun alles Mögliche. Es sind eher die oberen Ebenen der Politik, die uns im Sauerland endlich sehen und bei uns eine Priorität setzen müssen.“

Redaktion

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